Das Patent Nr. 900309.
Eine ausgeklügelte, aber ruhmlose Erfindung.
Er hatte so viel Hoffnung in seine technische Entwicklung gesetzt. Sie hatte Potential, das wusste Leonhard Weiß. Im Jahr 1924 verbaut er bei einem Kunden, der Deutschen Gelatinefabrik A.G. in Göppingen, eine Gleiskurve mit einem Radius von 35 Metern. So enge Kurven sind eigentlich ein Problem für den Schienenverkehr, da durch den enormen Kraftaufwand und die entstehende Reibung der Verschleiß der Schienen und Räder hoch ist. Gerade bei schwer beladenen Fahrzeugen besteht außerdem immer die Gefahr der Entgleisung. Oft werden deshalb komplizierte und störanfällige Drehscheiben verwendet.
Leonhard Weiß findet für dieses Problem eine gelungene technische Lösung: Er verschraubt eine Gegenschiene an der Innenseite der Kurve, die für mehr Sicherheit sorgt. Eine Außenschiene ist so konstruiert, dass die Räder in der Schiene ansteigen und das Fahrzeug leicht schräg durch die Kurve fährt. Das verringert den Reibungswiederstand. Dank dieser Dreischienenkurve ist es möglich, den Hof der Fabrik mit den Kohlebunkern zu verbinden und einen direkten Eisenbahnverkehr einzurichten. Im Juli 1924 wird die Konstruktion offiziell abgenommen. Bei dem Termin wird die Kurve erst mit einem mit 3324 Kilogramm Gelatine beladenen Wagen befahren. Es folgt ein zweiter mit 8500 Kilogramm Kohle. Neben Vertretern der Firma bescheinigt auch Oberbaurat Baumann, dass die Anlage ohne Anstände funktioniert. Und auch nach Jahren hat sich die Kurvenkonstruktion bewährt.
Noch im selben Jahr lässt Leonhard Weiß ein Gebrauchsmuster für seine Gleiskurve eintragen. In sein Patent Nr. 900309 fließt sein ganzes Wissen und seine Erfahrung als Bauunternehmer ein. So verwendet er wie im Straßenbau als Unterkonstruktion eine Betonplattform aus fein zerkleinertem Schotter – eine günstigere Variante, die außerdem den Vorteil hat, dass sich weniger Unkraut bildet. Der Kopf der Außenschiene ist außerdem gefräst, was für ein sicheres und gleichmäßiges Einfahren des Radreifens sorgt.
Oberregierungsbaurat Kräutle, angetan von der Idee aus Göppingen, beschreibt die Kurve folgendermaßen: „bei der Bauart Weiß (sind) die Schienenstränge des Bogengleises von 35 m Halbmesser auf Betonalschwellen montiert und ist zur Außenschiene ein besonderes Walzprofil verwendet, in dessen breitem Kopf die Auflauframpe ausgefräst ist mit der Besonderheit eines kleinen Gegengefälles am Einlauf des Radkranzes.“
Leonhard Weiß hofft, sein Patent zu Geld machen zu können. Drei Jahre später, 1927, hat die Dortmunder Fabrik für Feld- und Industriebahnen Interesse daran, seine Kurve zu fertigen. Zu diesem Zeitpunkt wird die Gleiskurve von LEONHARD WEISS bereits im Bereich der Reichsbahndirektion Stuttgart verwendet. Nun endlich steht dem Durchbruch seiner Erfindung nichts mehr im Wege. Außer die langsamen Mühlen der Bürokratie.
Denn das Verfahren zur Eintragung in das Zentralregister in Berlin dauert an. Im August 1927 zieht das Unternehmen aus Dortmund den Auftrag schließlich zurück, weil der Musterschutz nicht gültig sei. Obwohl sich der Regierungsbaumeister persönlich um eine Beschleunigung des Verfahrens bemüht und einem Einbau der Kurve seinen Worten nach „nichts im Wege steht“, kommt der Auftrag letztendlich nicht zustande.
Im Oktober 1927 wird die Gleiskurve zugelassen. Leider zu spät. Auch andere Hersteller bringen in diesen Jahren sogenannte „Auflaufkurven“ auf den Markt. Bekannt werden vor allem die der Klöckner-Werke in Osnabrück oder die „Deutschlandkurve“ der Maschinenfabrik Deutschland GmbH.
1931, als Leonhard Weiß in der Wirtschaftskrise um das Überleben seiner Firma kämpft, setzt er noch einmal alle Hoffnung auf seine Erfindung. Er meldet seine Gleiskurve als Patent in Frankreich, Holland, England, Belgien, Schweiz und Österreich an. Obwohl das Interesse groß ist, findet er keine Abnehmer.
Als ab 1933 die Aufträge von der Reichsbahn wieder zunehmen, gibt Leonhard Weiß die Bemühungen um seine Gleiskurve auf. Im Einsatz ist sie trotzdem. Nachdem sich die „Bauart Weiss“ in der Direktion Stuttgart bewährt hat, kommt sie auf den Strecken der Reichsbahn im ganzen Land zum Einsatz. Den Ruhm, den das Patent Nr. 900309 eigentlich verdient hat, bekommt es jedoch nie.